Meine Zeit bei Stefan Askenase
Aus einem Gespräch mit dem Musikkritiker Dr. Markus Giljohann
Auf Vermittlung von Freunden erhält Hannes Sonntag die Chance, dem großen Pianisten Stefan Askenase vorzuspielen. Askenase steht im achten Jahrzehnt seines Lebens, ist einer der gefeiertsten Chopin-Interpreten seiner Zeit, konzertiert noch immer weltweit und hat seinen Wohnsitz schon lange von Brüssel in die Nähe von Bonn verlegt. Im rheinnahen Bahnhof Rolandseck, einem neuen interkulturellen Zentrum, bewohnt er den linken Turm des historischen Gebäudes.
„Ich hätte vibrieren müssen vor Aufregung“, staunt Hannes Sonntag noch jetzt, „tat es seltsamerweise aber nicht. Noch weniger übrigens, als ich diesem wundervollen Menschen persönlich gegenüberstand. Ganz sicher hat er mich gleich so in die Präsenz seines künstlerischen Alltags gezogen, dass ich bereits am Bösendorfer-Flügel saß, bevor ich mir hätte einfallen lassen können, nervös zu werden. Ich spielte – Bach, Mozart, Chopin – , und Stefan Askenase sagte mir in schlichten Worten, er sei bereit, langfristig mit mir zu arbeiten. Ich konnte es kaum glauben, ich war nun Meisterschüler von Stefan Askenase, und so leicht war es gewesen!“
Von nun an reist Hannes Sonntag, wann immer es die ausgedehnten Tournéepläne Askenases erlauben, nach Rolandseck und später nach Bad Godesberg, um regelmäßig mit dem großen Interpreten zu arbeiten.
„Es war ein Traum: im Vormittag kreuzte ich dann auf (manchmal war Askenase erst abends zuvor von irgendwo auf der Welt zurückgekommen, die Koffer standen noch im Flur), wir arbeiteten äußerst konzentriert drei Stunden miteinander und anschließend gab es jedes Mal ein delikates französisches Mittagsmahl mit bestem deutschen Weißwein, – er bestand darauf, dass auch ich ein oder zwei Gläser trank, ungeachtet der Tatsache, dass ich es meinem Spiel zuliebe besser gelassen hätte. Aber das Schönste waren die unerschöpflichen Geschichten und Anekdoten, die ich zu hören bekam, viele Jahrzehnte gelebter Geschichte mit persönlichen Kontakten zu fast allen zeitgenössischen Gestalten des Musiklebens. Ich denke, Askenase war als Erzähler ebenso glänzend und originell wie als Pianist. Nach Obst, Käse und dem unvermeidlichen Mokka ging es weiter zur folgenden Session am Klavier, wieder wenigstens zwei Stunden lang. Und zum guten Schluss sehr oft und mir absolut unvergesslich sein heiß ersehnter Satz: ‚schau, das mache ich gerade‘, und dann spielte er mir vor, Bach-Suiten und Mozartsche Klavierkonzerte, einmal sogar einen ganzen Strauß spontan erinnerter Walzerklänge aus dem Jahrhundertwenden-Wien seiner Jugendzeit. Gegen Abend trat ich die Rückreise an und zeichnete mir im Zugabteil all die Bemerkungen und Tips in meine Partituren ein. Es ist vollkommen unglaublich, Askenase hat mit tatsächlich über viele Jahre hinweg bei jedem meiner Besuche einen ganzen Tag geschenkt. ‚Ich habe Zeit‘, pflegte er zu sagen.“
Und wie war nun dieses Studium mit einem solchen Meister seines Fachs?
„Völlig einfach im Umgang“, antwortet Hannes Sonntag, „ohne alle Eitelkeiten und Umwege, es ging ausschließlich um die Musik. Askenase war strikt in Dingen, wo es ein objektives Richtig oder Falsch gab, da war er unerbittlich. Um technische Grundsatzfragen kümmerte er sich nicht, Technik setzte er einfach voraus. Hingegen war er von überwältigender Phantasie und geradezu listenreich, wenn es um die Lösung logistischer Probleme ging: Fingersätze, Übe-Schemata, Verteilung komplexen Notenmaterials auf die Hände und Ähnliches. Und künstlerisch war er im besten Sinne liberal. Er erläuterte seine eigene Auffassung, stellte meine dagegen, kam noch auf etliche weitere zu sprechen und überließ mir die Wahl. In der Tat bin ich am Ende dann häufig bei meiner eigenen Version geblieben, und das akzeptierte er. Bei all seiner romantisch-emotionalen Spiel-Innigkeit hatte er den leichthändigen rationalen Charme eines Grandseigneurs aus dem Zeitalter der Aufklärung.“
Askenase fördert Hannes Sonntag auf vielfältigste Weise. Er betreut ihn vor Auftritten und Konzerten, empfiehlt ihn an Agenten und Veranstalter und lässt ihn auch mal für sich selbst einspringen.
„Askenase“, sagt Sonntag, „war für mich wie ein Spiegel für mein eigenes künstlerisches Tun. Ich habe ihm auch später im Geiste oft vorgespielt und mich seinen hypothetischen Einwänden gestellt. Ganz sicher hat mein Spiel während der mehr als zehn Jahre, die ich ihm regelmäßig begegnete, wesentliche Komponenten hinzugewonnen. Das alles war ein Werkstatt-Prozess, der mir enorm zugute kam, ein bisschen so wie in den Ateliers der Rubens, Rembrandt oder anderer Maler in alter Zeit. Das schloss mit der Zeit sogar eine echte Freundschaft zwischen einem sehr alten und einem sehr jungen Mann mit ein. Am Wichtigsten war jedoch, dass ich in dieser lang andauernden Phase meines Lebens ganz ich selbst bleiben konnte, ja dass gerade dies das Hauptziel meiner Entwicklung war.
Ohne je ein Honorar zu verlangen, arbeitete Stefan Askenase über die Jahre meines Stipendiums hinaus bis zu seinem plötzlichen Tod nach einem Klavierabend in Köln im Oktober 1985 künstlerisch mit mir zusammen. Es waren die noble Geste und die menschliche Größe einer Persönlichkeit, die noch einer anderen, vergangenen und in dieser Form wohl unwiederbringlichen Epoche angehörte.“